Es ist der 25. Juli 2023. Noch sitze ich in einem Surf-Haus in Seignosse (Südfrankreich, Atlantikküste) und arbeite ein paar meiner Aufträge ab. Bald muss ich wieder nach Deutschland. Aber ich habe einen Plan.
Vor ein paar Wochen habe ich entschieden, für unbestimmte Zeit nach Frankreich in ein kleines Dörfchen zu ziehen und meine berliner Wohnung dafür ganz aufzugeben.
Mit Blick auf die Wohnungssituation in Berlin wäre die vernünftige Variante die der Untervermietung gewesen. Aber mittlerweile wir wissen ja alle, dass die vermeintlich vernünftigen Varianten nicht so meins sind. Dafür bezahle ich ja auch meist brav meine „Quittungen“ (Geld, Nerven, Stress …).
Doch es ist noch mehr, es geht darüber hinaus. Ich brauche den Schnitt, dieses Gefühl, dass ich nichts zurücklasse, außer ein bisschen Glitzer auf dem Boden der Tatsachen.
Ich denke auch, dass solche Entscheidungen sehr individuell sind und damit gebe mich mit dieser Rechtfertigung für meine fragwürdige Entscheidung erstmal zufrieden.
Ab die Post.
Als ich da so in diesem Surf-Haus sitze und meinen Kram erledige … schießt mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: Meine Wohnungs-Kündigungsfrist!
Drei Monate sind eben drei Monate … (als ob das SO ein Drama wäre, aber in dem Moment kommt es mir echt so vor 😀 )
… und ehe ich mich versehe, bin ich mit einem Stück Papier auf dem Weg zur Post, um meine Wohnungskündigung noch in Frankreich einzuwerfen. Ich stecke den Brief ohne Zögern ein und schlendere zurück durch den kleinen Touri-Ort, als wäre nichts.
Vorbei an Surfboards und Kindern mit buntem Strandspielzeug, vorbei an bummelnden Besucher:innen, die sich billige Armbänder an den Drehständen vor den Geschäften anschauen. Furchtbar.
Kurz reflektiere ich meine Entscheidung im spiegelnden Schimmer der Armbänder: Der „Point of no Return“ (kein Zurück) in Bezug auf meine berliner Wohnung wäre damit also überschritten … OK, war eigenlich einfach.
Kurz kommt mir der Gedanke, ob ich vielleicht den Verstand verloren habe, aber ansonsten keine Beschwerden aus dem rationalen Zentrum. Der leichte Schwindel ist nur der Effekt der schimmernden Armbänder …
Und dann bleibe ich, wie hypnotisiert, doch kurz bei den drehbaren Metallständern voll mit mittelschönen Armbändern vor den Geschäften hängen. Eigentlich brauche ich noch ein paar Kleinigkeiten für die lieben Menschen, die mich in Deutschland die ersten Tage wieder aufnehmen werden. Ich gehe hin und während ich die Armbänder inspiziere („hässlich, hässlich, hä – OMG, ….), denke ich über meine Entscheidungsfreude nach.
Jain.
Ich treffe wichtige Entscheidungen eigentlich immer mit vielen Pro- und Kontralisten. Zuzumindest hatte ich die immer als Tarnung. Sodass ich am Ende sagen kann: “Zumindest habe ich es genau abgewogen, mehr konnte ich nicht tun …!“
Aber eigentlich weiß ich es meistens im Bauch schon viel früher, wie ich mich entscheiden werde. Meist ist das Jain schon lange ein Ja oder Nein. Eigentlich geht es also nur noch darum, eine Bauch-Entscheidung mit rationalen Argumenten verteidigen zu können. Vor anderen, aber irgendwie auch vor mir selbst.
Außer bei diesen Touri-Armbändern … da will es irgendwie nicht so funktionieren. Ich drehe weiter am drehbaren Gitter, in der Hoffnung ich hätte eine Reihe wunderschöner Armbänder übersehen.
Ich muss sagen, der Bauch hat mich bei meinen Entscheidungen selten komplett auf den Holzweg geführt. Ich bin mit den „rational vernünftigeren“ zumindest schon öfter sehr unglücklich geworden.
Ich finde es sowieso schwer, falsche Entscheidungen sofort zu erkennen, wenn man nicht unmittelbar die „Quittung“ bekommt.
Wenn man sich im Touri-Shop ein vermeintlich tolles Armband als Souvenir kauft und es eine Minute später beim Umbinden auseinanderfällt, dann weiß man, dass man es evtl. doch hätte selbst basteln sollen. Und da diese Situation natürlich total vergleichbar mit der meiner halb-spontanen Wohnungskündigung ist und ich bisher nicht „bestraft“ wurde würde ich sagen – alles richtig gemacht!
Luxusprobleme.
Dass ich diese Entscheidung so treffen konnte, hängt auch von der Situation ab, in der ich mich befinde. Sowohl örtlich, aber auch sozial gesehen. Ich kann einfach meine Wohnung kündigen, weil ich weiß: Ich komme notfalls bei Freund:innen oder Verwandten unter.
Ich habe das Geld, um wieder nach Frankreich zurückzugehen. Ich bin in der Lage, alles Nötige einzuleiten und zu organisieren (denke ich jetzt, wartet, bis ich ein Auto kaufen muss). Ich habe einen Job, der mir die nötige Flexibilität gibt. Also eigentlich ist alles, was noch kommt, ein Luxusproblem. Oder mehrere davon.
Aber ich habe eine Verantwortung für mich selbst. Und ich bin ein glücklicherer Mensch, hier in Frankreich, am – oder in der Nähe vom – Meer. Im Moment kann ich nicht genau sagen, ob es am Surfen, an der Kultur oder der Natur liegt, dass es mir hier besser geht – aber das ist auch erstmal nicht relevant. Ich ahne, dass es auch mit dem Reisen an sich zu tun hat. Diese Freiheit, ich habe sie immer gebraucht.
Oder doch nicht …?
Zweifel spielen bei großen Entscheidungen immer eine Rolle. Sie sind normal. Zumindest versuche ich mir das einzureden, wenn sie auftauchen. Zweifel rühren meist aus Unsicherheiten oder Ängsten heraus.
Duden sagt, Zweifel sind „Bedenken, schwankende Ungewissheit, ob jemandem, jemandes Äußerung zu glauben ist, ob ein Vorgehen, eine Handlung richtig und gut ist, ob etwas gelingen kann o. Ä.“. Es hat also damit zu tun, dass wir noch keine Gewissheit darüber haben, ob etwas gelingen wird oder eine Entscheidung richtig war – weil wir die Zukunft nicht kennen. Und das – Überraschung – wird auch immer so bleiben.
Wird das Touri-Armband schnell kaputt gehen? Werde ich die Entscheidung, meine Wohnung komplett aufzugeben und nach Frankreich zu gehen, bereuen?
Nun, dem habe ich nicht viel mehr entgegenzusetzen als: Die für mich einzige Möglichkeit, die Ungewissheit zu beseitigen, ist, es selbst zu testen. Versuch macht klug. Oder schmälert das Konto und schickt einen wieder zurück nach Deutschland. We will see.
Ich kaufe ein paar Touri-Armbänder. Sie sind eigentlich ganz schön und maßlos überteuert, und ich will sie.
Ja, ich will … erstmal.
Dass ich so „radikal“ vorgehe, ist allerdings ein sehr guter Indikator dafür, dass ich etwas wirklich will: Für meinen Plan nach Frankreich zu gehen, nahm und nehme ich ziemlich viel in Kauf – monetär als auch organisatorisch. Ich will es einfach unbedingt und kann es rational nicht unbedingt lückenlos rechtfertigen. Das macht mir Angst.
Denn nur weil man es wirklich will, ist das natürlich kein Garant für Zufriedenheit und Funktionieren eines Plans. Das hat mir die Entscheidung, nach in Berlin zu gehen, wo sich nach nur einem Jahr das Corona-Virus in all seinen Farben präsentierte, deutlich klargemacht. Bereue ich es? Auf gar keinen Fall.
So bleibt mir letztendlich nur das Vertrauen in meine Wünsche und meine Fähigkeiten. Und in das Touri-Armband, dass zumindest nicht sofort nach meinem Kauf in all seine Einzelteile zerfällt. Wird schon klappen.
Stabil!
Gut, vielleicht habe ich mit dem Titel „The Day of no Return“ auch etwas in tief in die dramaturgische Trickkiste gegriffen.
Denn genau genommen (und das ist das Gute), gibt es für mich auch Wendemöglichkeiten. Das ist das Schöne am Reisen. Wenn man merkt, dass man irgendwie nicht richtig ist oder Dinge nicht funktionieren wie geplant (Touri-Armband geht kaputt), kann man umkehren oder den Plan anpassen (Armband reparieren oder direkt selbst basteln).
Deshalb bin ich evtl. auch in Seignosse so relaxed vom Postkasten wieder zum Surfhaus gelatscht (mit der Tasche voller Armbänder wohlbemerkt), wohl wissend, dass meine Entscheidung schon eher unter die Kategorie „größer“ fällt.
Aber anders schaffe ich es nicht. Der Humor und der Vergleich mit kleineren Dingen helfen mir, mutigere Entscheidungen zu treffen und nicht so viele Teufel an die Wand zu malen.
Abschließend würde ich sagen: Auf geht’s! Als ich das schreibe, blicke ich auf die 5-Euro-Armbänder, die bisher verblüffend stabil an meinem Handgelenk weilen.
Music.
Der Song meiner Roadtrip- und Frankreichzeit ist ganz klar „I Don’t Live Here Anymore“ von The War on Drugs.
Enjoy
Tina