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Zugvögel

Es ist dieses Geräusch. Es triggert mich, wie kein anderes. Es ist kein Piepen, kein Vogel-Gesang, kein richtiges Schnattern, kein Enten-Nat-Nat. Es ist ein entferntes Kommunizieren hoch oben am Himmel, das von einer Sekunde auf die andere meine Aufmerksamkeit und Sehnsüchte weckt.

Neulich habe ich die Zugvögel zum ersten Mal in diesem Jahr gehört. Und es berührt mich jedes Jahr aufs Neue, als würde ich in eine neue zeitliche Dimension eintauchen. Ich dachte bisher, der Herbst würde sich für mich durch das Regnen von Blättern in den krassesten Rot-, Braun- und Gelbtönen einläuten. Meine Augen sehnen sich so sehr nach diesen kräftigen Farben, die kein Hochleistungsmonitor jemals ersetzen kann. Vielleicht ist das der visuelle Effekt, der offensichtlichere, der die Herbststimmung einläutet. Aber das wirkliche Gefühl, das kommt von weiter oben. Und fliegt von dort direkt in mein Herz.



Ich schaue hoch und erblicke, nach kurzem Suchmanöver meiner Augen, die V-förmige Formation fliegender Tiere vor wolkenlosem blauem Himmel. Ein tolles Bild. Sie sind so hoch. Ist ja auch klar, sie haben Langstrecke vor sich. Da oben ist es weniger turbulent, erklärt mir meine naive Fantasie.

Eine Mischung aus Sehnsucht und Träumerei stellt sich ein. Wohin sie wohl fliegen? Wo lang führt sie ihr Weg? Ich liebe diese Vorankündigung, dieses Drüber-Nachdenken, das Abschweifen in Gedanken über eigene ferne Reisen. Gleichzeitig tröstet mich die Gewissheit, dass am Zielort der Vögel wahrscheinlich ein milderes Klima herrscht. Zumindest in meiner Fantasie ist es immer wärmer, auch wenn ich mir denken kann, dass das nicht für jede Vogelart gilt.

Ich stelle mir vor, wie die Tiere am neuen Ort ankommen, wie nach einer langen Reise, sich erstmal einrichten, sich ihrer Reiseklamotten entledigen, die Gegend erkunden, die Wärme genießen und sich dann darüber freuen, im Warmen überwintern zu können und sich von tollem Essen und neuen Gerüchen verzaubern zu lassen.

Nach kurzer Recherche finde ich heraus, dass die Tiere auf ihren Reisen flugtechnische Höchstleistungen erbringen, manchmal mehrere hundert Kilometer am Stück fliegen. Das überrascht mich nicht. Auch, dass die Reise immer größere Risiken birgt, weil noch immer Vögel abgeschossen werden oder die Folgen der Klimaerwärmung den Fliegenden zu schaffen machen, bringt mich zwar zum Nachdenken, aber wundert mich nicht wirklich. Irgendwie klar, wenn man sich kurz mal in der Realität umschaut.

Trotzdem finde ich es spannend, die Routen einiger Zugvögel nachzuvollziehen. Die Nabu hat ein paar Vögel getrackt, hauptsächlich Turteltauben (love is literally in the air!), und aus den Daten die Flugrouten visualisiert. Meist geht’s bis nach Afrika, nur die Routen an sich unterscheiden sich, je nachdem, woher die Vögel kommen. Manche fliegen östlich über die Schweiz und Italien oder den Balkan und andere über Spanien und Frankreich. Aber auch nach ihrer Ankunft bleiben die Vögel anscheinend nicht immer an einem Ort. Zugvogel-Backpacking.

Die Sehnsucht, dem Winter zu entfliehen, war bei mir noch nicht immer so groß wie dieses Jahr. Das hat sich irgendwie entwickelt. Nach Umfragen im engeren Freundeskreis kann ich vermuten, dass ich nicht die einzige bin, der es so geht. Viele fliegen gen Ende des Jahres oder Anfang des neuen nochmal weg, um den Winter zu verkürzen. Das fehlende Tageslicht, die Kälte, die laufenden Nasen – und das bis mindestens April des nächsten Jahres – nicht die Aussicht, die ein Stimmungshoch verursacht.

Zugvögel ziehen ja aber nicht aus Spaß in den Süden, oder weil noch Resturlaubstage genommen werden müssen oder ein Vitamin-D-Mangel ansteht. Der Grund ist, dass sie überleben wollen. Gut, wird man unterwegs irgendwo abgeschossen oder verlassen einen zwischendurch die Kräfte, wird das natürlich nichts. Aber die Aussicht auf einen Winter ohne genügend Futter birgt den wahrscheinlich sichereren Tod. In den wärmeren Ländern winkt die Aussicht auf Nahrung, die sie in den kälteren Ländern nicht finden würden.

Für mich so als Mensch fühlt sich der Gedanke ans Überwintern in wärmeren Ländern auch etwas wie Nahrungssuche an, aber nicht in Form von Essen, sondern als Nahrung für die Seele.

Ich habe im Winter, und gerade in den letzten Pandemie-Wintern, nicht selten das Gefühl gehabt, dass meine Seele langsam verhungert. Die Kälte, die Dunkelheit, das nach 16:00 Uhr nicht mehr rausgehen wollen, und wenn rausgehen, dann immer mit dem Risiko sich einen nicht berechenbaren Virus einzufangen … das Gefühl von Einsamkeit.

Durch einen Zufall bekam ich passend dazu vor kurzem das literarische Essay „Allein“ von Daniel Schreiber in die Finger. Auch er beschreibt (unter anderem), wie er einen Winter nach einem Aufenthalt auf Lanzarote spontan beschließt, länger auf den Kanaren zu bleiben, um eine Art Selbstfürsorge zu betreiben. Und dass es ihm geholfen hat (Schreiber, S. 112 ff.)

Oft habe ich gedacht, woanders zu überwintern würde einer Art luxuriöser Flucht gleichkommen. Was für Winter-Weicheier. Nun denke ich, dass es eher als nährende Zeit für die Seele betrachtet werden kann und auch damit zu tun hat, dass man sich aktiv dafür entscheidet, sich um die seelische Gesundheit zu kümmern.

Während ich die Formation beobachte, die über mich hinwegfliegt, und mein Nacken langsam steif wird, kommt mir noch eine Frage: Woher wissen die Vögel bloß so genau, wohin sie fliegen müssen? Ich ahne, dass irgendwelche komplexen physikalischen Mechanismen im Spiel sind. Unter anderem auf weltderphysik.de kann man nachlesen, dass die Vögel einen inneren Magnetkompass besitzen und sich dadurch am Magnetfeld der Erde und am Stand der Sonne orientieren können. Das reicht mir für einen groben Eindruck.

Zugvögel sind also wahre Orientierungsmaschinen. Und damit das komplette Gegenteil von mir. Sie können das gleiche Nest im Süden Jahr für Jahr wiederfinden – und entsprechend auch in ihr Nest in Deutschland zurückkehren, falls es noch vorhanden ist. Ich verlaufe mich auch heute noch in meinem eigenen Kiez.

Aber warum nicht gleich dableiben, wo die Futterchancen deutlich besser sind und das Klima deutlich angenehmer ist? Im Netz finde ich eine Antwort, die logisch und gleichzeitig wenig gemeinschaftlich klingt: Die Zugvögel räumen das Feld für die in der Region „einheimischen“ Vögel. Nix mit Auswandern also. Naja, vielleicht mögen sie ja das „Nachhausekommen“-Gefühl …

Für die Zugvögel bestimmt die Natur, wann sie wohin gehen. Der Überlebensinstinkt und ein ultra-krasses naturgegebenes internes Navi sind maßgebend. Mir fehlt das Navi, aber ich habe dafür ein okayes Bauchgefühl, dass mir meist ganz akzeptable Reise-Tipps gibt. Zu merken, wann meine Seele neues „Futter“ braucht, muss ich weiterhin lernen.

Das Geräusch der Zugvogel-Laute holt mich ein. Ich atme ein, werde sehnsüchtig, aber etwas in mir ist auch gespannt. Wohin sie wohl fliegen?


Quellen:

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